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Heute vor 20 Jahren durchlitt ich einige trübe Stunden. Die Einsamkeit nagte an mir. Fragen warfen sich mir auf, warum ich mir das antue, dann wiederum schwor ich mir, durchzuhalten. Immer wieder fühlte mir meine Sprachlosigkeit wie auf einen wunden Zahn. Was zu tun war, lag auf der Hand. Und doch war da zunächst der Reflex: zurück ins Vertraute. Dass ich mich herausgerissen hatte aus einem gewohnten Umfeld, wurde zu einer Art inneren Häutung. Ich spürte nun ein anderes Erleiden als das, was ich vorher als Durchleiden kannte. Es entstand ein inneres Klammern an Vertrautem, als würde ich gleich abzustürzen drohen. Aus der Entfernung heute ist die drohende Absturzhöhe die eines Bordsteins, in dem Augenblick damals war es für mich jedoch die des Pik Talgar. Bei all diesen depressiven Zügen barg dieses Leiden zwei wichtige Impulse: erstens den Zwang, mich selbst anzunehmen, mich mit meinen Macken und Schwächen in dieser Situation zu akzeptieren; und zweitens dem Druck, mir schnellstmöglich die Sprache anzueignen, um aus mir herauskommen zu können. Verinnerlichen, um damit Ausbrechen zu können – so würde ich es heute nennen.

Einen Ausweg aus der Situation suchte ich über das Telefonieren. Bald sollte ich merken, dass dieser Lösungsweg nicht der günstigste war und in Anbetracht meiner finanziellen Situation eine nur äußerst sparsam zu wählende Option sein sollte. Ich rief also bei meinen Eltern an und ich bekam meine Schwester ans Telefon. Es war sehr emotional und ich rang mit Worten, während mir meine Schwester zuhörte und mich immer wieder zu ermuntern versuchte. Es hatte auch etwas Zauberhaftes: diese Stimme meiner Schwester, über 7000 km entfernt, zu einer anderen Tageszeit, in ihrer eigenen Realität, stellte plötzlich eine gemeinsame Gegenwart her. Eine immer wieder knarzende Brücke, die bisweilen abzureisen drohte. Einmal klang es so, als hätte sich jemand in die Leitung mit eingeklinkt. Doch davon ließen wir uns nicht stören. Durch das Telefonat konnte ich mich wieder aufrichten und Klarheit gewinnen, was von mir nun vor Ort gefordert sein würde.

Eine dieser Notwendigkeiten war es, neue Schuhe zu kaufen. Ich kam in Kasachstan an und wie mit einem symbolischen Wink des Schicksals verlor ich bei einem meiner Schuhe beinahe die Sohle. Es sollte eben auf neuen Sohlen vorangehen. Ich verabredete mich mit Pawel, Pascha genannt, einem deutschsprachigen Kollegen im Theater, der mir in den nächsten Wochen eng beistehen wird und dem ich bis heute dafür sehr, sehr dankbar bin.

Der Zelyoni Basar. Im Hintergrund ist die blaue Kuppel der großen Moschee von Almaty zu sehen.

Wir fuhren zum Zelyoni Basar im Zentrum. Für mich war das zugleich eine erste Vermessung dieser Stadt. Es war sehr ungewohnt für mich, nur endlos schnurgerade Straßen entlangzufahren. Es schien so, als gäbe es gar kein Zentrum. Oder alles war Zentrum. Wir fuhren mit der Marshrutka den Abai-Prospekt entlang, wahrscheinlich bis zum Prospekt Dostyk, am Hotel Kasachstan vorbei, irgendwo am Panfilov-Park entlang und hielten dann vor dem Zelyoni-Basar. Ich mag es eigentlich sehr gern, eine Stadt bewusst undurchdrungen kennenzulernen, zu erfahren und dann später, wenn man sich wie ein Fisch im Wasser an diesem Ort zu bewegen weiß, gedanklich darauf zurückzublicken und die Sichtweisen noch einmal zu adaptieren, wie es wirkt, wenn man den Ort vorher noch nie erkundet hat. Vielleicht kam diese Freude an dem Phänomen aber auch erst später auf. Der Markt war eine große Halle, umgeben von unzähligen Ständen, die sich auf Treppen, Absätzen, an Zäunen oder was auch immer ihr Dasein zu rechtfertigen suchten. Es war alles sehr farbig, es gab alles Mögliche, von Obst, Gemüse, über Reinigungsmittel bis hin zu Technik und Geräten. Pascha zeigt mir die Halle von innen. Diese war hoch und der Raum war nach bestimmten Lebensmitteln strukturiert. Heute meine ich erinnern zu können, dass hinten rechts die Fleischabteilung war. Diese forderte meine samtene Nase, von einer bis dahin mir unbewussten Geruchsneutralität von Supermärkten eingebauscht, schlagartig und unbarmherzig heraus. Weder war mir der Geruch angenehm, noch der Anblick. Es hingen die Tierleiber an Haken, Tierköpfe lagen zum Verkauf und alles war in meiner Wahrnehmung sehr archaisch in seiner blutigen Selbstverständlichkeit. Etwas heftiger erging es mir dann in der Ecke hinten links bei den Milchprodukten. Der Geruch, der diese Ecke einhüllte, enthob mich beinahe meiner sohlenschwachen Schuhe. Käselaibe, Bottiche mit zäher, gelbweißer Flüssigkeit, aus der bisweilen mit Kellen geschöpft wurde – obwohl es mir recht konkret vorkommt, sind die Bilder in meinem Kopf doch nur so scharf als würde ich durch Milchglas schauen.

Später kaufte ich mir dann einfache Stoffschuhe mit Kunststoffsohlen, die mich bis weit in den November tragen sollten. Ob ich bei diesem ersten Besuch auf dem Zelyoni Basar auch meine ersten Musikkassetten gekauft habe, weiß ich nicht mehr. Im Laufe des Jahres sollte ich noch öfters an diesen Ort zurückkehren, unteranderem auch deshalb, weil sich direkt gegenüber die Redaktion der Deutschen Allgemeinen Zeitung (DAZ) befand. Die Schlüsselperson zur DAZ sollte ich schon sehr bald kennenlernen.

Avatar Johannes | Йоханнес

Author: Johannes | Йоханнес

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