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Heute vor 20 Jahren begann um 16 Uhr Ortszeit meine erste Probe am Deutschen Theater Almaty. Ich übernahm die Rolle des Generals aller Armeen im Stück „Fierling“, einer Bearbeitung von Brechts „Mutter Courage und ihre Kinder“. Es war vielleicht die größte Ironie meines Lebens, dass ich aus dem Zivildienst kommend, nun also die militärischste Figur des Stückes übernahm. Denn ich war nicht nur der Feldhauptmann, sondern der General aller Armeen der Welt. Viktor hatte mich bereits seit längerem für die Rolle vorgesehen, etwa seitdem wir uns im November 2000 in Stuttgart auf Schloss Solitude getroffen und mein Kommen nach Kasachstan beschlossen hatten.

Nun also stand ich zum ersten Mal mit dem Ensemble auf der Bühne. Mit welcher Szene meine Probe begann weiß ich nicht mehr. Ich glaube, es war eine Gruppenszene. Viktor erläuterte mir eingangs, was die Situation ist – und dann ging es wohl los. Es war sehr anstrengend für mich, da Viktors Anweisungen auf Russisch waren und er nur ab und zu mir eine kurze Zusammenfassung auf Deutsch gab. So kam es, dass ich ab der ersten Probe begann, Russisch zu lernen, denn es blieben mir sofort zwei Begriffe hängen: „jeschtscho ras!“ und „ticha!“ – übersetzt „noch einmal“ und „Ruhe!“. Bald kamen noch Wörter wie „repetizia“ (Probe), „pererijv“ (Pause), „rebjata“ (Leute) und so weiter dazu. Ein zweiter Weg, Russisch zu lernen, ergab sich in den Pausen: vor allem in den ersten Tagen holte ich mir zum Mittagsessen etwas aus dem Café gegenüber. Beim allerersten Mal begleiteten mich noch zwei, drei andere und erklärten mir, wie welche Speise heißt und was sie beinhaltet. Ich nahm, glaube ich, immer Samsa, weil es am einfachsten auszusprechen war. Bei der Frage, ob mit Fleisch oder Kraut nickte ich meist, sodass es Lotto war, was drin war. Aber es dauerte nicht lange und ich wusste, dass „s mjasom“ die fleischgefüllten Teigtaschen sind. Allerdings erschöpfte sich meine Lust auf Samsa relativ schnell, da es auf Dauer doch recht einseitig war und mit der Zeit auch zu kostenintensiv wurde. Zwar probierte ich ab und an, etwa wenn Pascha dabei war, auch andere Speisen (z.B. Lagman), doch bis ich mich sprachlich so selbstsicher fühlte, dass ich mir mein Spektrum selbst ausgestalten konnte, verlegte ich mich aufs Rauchen. Das war zwar nicht gut für die Stimme, aber dafür sprachlich recht leicht zu handhaben.

Das Deutsche Theater Almaty im April 2001.

In den kommenden Wochen kamen zu den Proben weitere Aufgaben hinzu. So hatte ich zum Beispiel einmal pro Woche Gesangsunterricht bei Polina. Sie war eine kräftige, gutherzige, aber auch strenge Lehrerin und am Anfang schämte ich mich, obwohl ich mehrere Jahre im Schulchor gesungen hatte. Ich verstolperte mich immer wieder auf der Tonleiter und es dauerte ein bisschen, bis ich gelassen war und das Vertrauen hatte, in ihrer Gegenwart zu singen. Auch wenn ich sie oft nicht verstand – das Do-re-mi-fa-sol-la-si-do wurde immer besser und ich spürte durch ihre ruhige Zugewandtheit, dass sie mir Mut machte. Des Weiteren hatten wir Steptanz-Proben mit Helen. Auf der rhythmischen Grundlage zweier Lieder der deutschen Band „Tut Buße“ übten wir die Tanzschritte für zwei, drei Ensembleszenen. Wie ich mir allerdings die Figur ergründete, den Text erschloss und lernte, weiß ich nicht mehr. Irgendwie muss es mir wohl gelungen sein, denn zur Premiere konnte ich ihn.

Die Probenstimmung war – knapp einen Monat vor der Premiere – bisweilen recht angespannt. Es gab immer wieder Auseinandersetzungen, weil einzelne Schauspieler zu spät kamen, denn dann verzögerte sich der Probenbeginn manchmal erheblich. Oder es gab heftige Diskussionen untereinander, denen ich aber nicht folgen konnte, die jedoch viel Zeit kosteten. Dann kam es vor, dass einige hinten auf den Hof gingen und rauchten. Dieser Hof und der Techniker Raschid wurden für mich schnell eine Einheit. Denn er war im Grunde immer dort. Als ich dann etwas sprechen konnte, später, haben wir dann auch dort gesessen und ich versuchte mich irgendwie auszudrücken, während er mir geduldig zuhörte. Besonders gerne erinnere ich mich an die gelegentlichen Runden nach den Proben abends im Theater, mit Wodka, oder öfter noch, mit kasachischem Konjak. Heute wirkt es auf mich, als führten sie dann wieder zusammen, was die Auseinandersetzung in den Proben zu spalten drohte. Es wurde viel gelacht, überlegt, diskutiert und gesponnen. Diese Runden gab es natürlich nicht jeden Abend, denn die meisten der Schauspieler hatten noch andere Tätigkeiten, oder Familie – doch diese Runden strahlten eine Vertrautheit aus, sodass ich wieder ein bisschen mehr ankam.

Gerade in der ersten Zeit waren diese Runden für mich auch eine Zuflucht vor meiner Wohnung, die mir so wenig Gefühl für ein zu Hause gab. Durch das Zuhören, das Erläutert-bekommen, durch das Suchen nach adäquaten Wörtern in der Übersetzung und dem Singsang der Sprache begann ich bald, mich in die russische Sprache hineinzuleben. Wenn die Runden zum Ende kamen, ging ich, nicht selten mit einem Unbehagen vor meinen vier Wänden, die etwa zehn Minuten Fußweg nach Hause.

Avatar Johannes | Йоханнес

Author: Johannes | Йоханнес

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